Was der Widerstand im Iran will

Von Teseo La Marca · · 2023/Jan-Feb
Demonstrant:innen in Rom: Solidarität mit den Menschen und gegen Repression im Iran. © Gregorio Borgia / AP / picturedesk.com

Wie aus dem Wunsch nach Reformen in Iran ein revolutionärer Prozess entstand.

Die iranische Gesellschaft ist ein großes Paradox. In keinem anderen muslimischen Land des Nahen Ostens begegnen die Menschen den religiösen Vorschriften so nachlässig und progressiv: Frauen prägen das Straßenbild, die meisten Moscheen stehen selbst freitags leer und vorehelicher Sex ist für die junge Generation die Norm. Selbst wenn die Menschen wissen, welche Konsequenzen das haben kann.

Diesen offenen, aufgeklärten Spirit spürt man: Wer als Tourist oder Touristin das Land bereist, wird danach noch lange schwärmen – von der Gastfreundschaft, vom selbstgekelterten Wein und von der persischen Lust an Musik und Tanz.

Zugleich wird kaum ein Land in der gesamten Region so konservativ regiert wie Iran. Die Islamische Republik ist eine rückständige, islamistische Militär-Diktatur, die ihre eigene Bevölkerung täglich mit menschenverachtenden Vorschriften und drakonischen Strafen terrorisiert. Gerade dieses Paradox macht Iran zu einer Art exotischem Freizeitpark für westliche Backpack-Tourist:innen: das riskante Katz-und-Maus-Spiel mit den Sittenwächtern als ultimatives Abenteuer.

Doch für die Iraner:inner selbst ist das Leben in der Islamischen Republik ein nie enden wollendes Trauma. Jeder kennt hier jemanden, der oder die mit Alkohol erwischt wurde und die Narben der Auspeitschung noch immer mit sich herumträgt.

Fast jede Frau wurde einmal von der Sittenpolizei verhaftet, weil ihr Hidschab nicht streng genug saß. Viele wurden verbal und körperlich misshandelt und alle kennen die Angst, der oder die nächste zu sein.

Kulturelle Renaissance. Mit der Revolution 1979 endete im Iran die Monarchie. Das erklärte Ziel des Revolutionsführers Ajatollah Ruhollah Chomeini (1902-1989) war es, ein islamisches Regime einzuführen, um die pluralistische Gesellschaft Irans durch Zwang in eine uniforme islamische Gesellschaft zu verwandeln. Erst wenn dieses Ziel erreicht war, hätte sich – ihm zufolge – das Regime zu einer demokratischen Regierung entwickeln dürfen.

Die strengen Sittenregeln und die Rechtfertigung übelster Verbrechen durch die Religion schafften aber kein Paradies auf Erden. Sie entfremdeten große Teile der iranischen Bevölkerung vom Islam und diese wandten sich angeblich westlichen Werten zu: Trennung zwischen Staat und Religion, Hedonismus, Toleranz.

Die neue breite Protestbewegung, die das Regime in Teheran als kulturelle Invasion bezeichnet, ist vielmehr eine Art kulturelle Renaissance. So berufen sich die Regimegegner:innen im Iran auf die Menschenrechtserklärung des persischen König Kyros oder auf die Ethik des Zoroastrismus: gute Gedanken, gute Worte, gute Taten.

Tanzende und musizierende Frauen waren selbst noch in islamischer Zeit Teil der persischen Tradition und wurden von den berühmten Dichtern Hafez, Rumi und Omar Chayyam besungen. Diese Tradition halten die jungen Iraner:innen dem stoppelbärtigen Puritanismus der Islamisten nun entgegen.

Aktuelle Zahlen zeigen das Ausmaß dieser Säkularisierung – und der wachsenden Kluft, die im Iran die Herrschenden von den Beherrschten trennt: Fast 70 Prozent der iranischen Bevölkerung hielten sich laut einer Umfrage des iranischen Parlaments aus dem Jahr 2018 nicht an die islamische Kleiderordnung. Rund 65 Prozent der Iraner:innen identifizieren sich nicht einmal mehr als Muslim:innen, wie eine Umfrage des in den Niederlanden ansässigen Forschungsinstituts GAMAAN (Group for Analyzing and Measuring Attitudes in Iran) aus dem Jahr 2020 gezeigt hat.

Junge Frauen sieht man im Iran immer öfter ohne oder mit locker getragenem Kopftuch in der Öffentlichkeit: ein Zeichen des Protests. © Teseo La Marca

Iran

Hauptstadt: Teheran  

Fläche: 1.648.195 km2 (fast 20 mal so groß wie Österreich)

Einwohner:innen: 84 Millionen (Schätzung aus 2020)  

Human Development Index (HDI): Rang 76 von 191 (Österreich 25)

BIP pro Kopf: 2.756,75 US-Dollar (2020; Österreich: 53.267,9 US-Dollar, 2021)

Regierungssystem: Islamische Republik unter dem Obersten Führer Ali Chamenei

Gegen Reformen. Kann ein Regime stabil sein, das das Leben von zwei Dritteln seiner Bevölkerung kriminalisiert? Es gab in der iranischen Politik einmal eine Fraktion, die diese Frage in ehrlicher Selbstkritik mit Nein beantwortete. Die Reformer um Mohammad Chatami (Präsident von 1997 bis 2005) verfolgten in den 1990er Jahren einen liberalen Kurs, der die demokratisch gewählte Regierung stärken und die fast absolute Macht des Obersten Führers Ali Chamenei (seit 1989 im Amt) schwächen sollte. Außerdem lockerte die Regierung Chatamis die strikten Sittenregeln und versprach weitere bürgerliche Freiheiten.

Chatamis Programm zielte letztlich auf eine friedliche „Ent-Mullah-isierung“ innerhalb des Systems – ähnlich der Entstalinisierung in der Sowjetunion. Doch es kam anders.

Die Hardliner um den Obersten Führer Chamenei witterten den drohenden Machtverlust und verbaten reformistische Medien.

Die darauffolgenden Student:innenproteste 1999 wurden von den Hardlinern als willkommene Gelegenheit hergenommen, um nicht nur gegen die Protestierenden, sondern auch gegen die Reformer hart durchzugreifen und die Macht im Land noch weiter auf den Obersten Führer zu konzentrieren.

Ein kurzes „Who is Who“ der Islamischen Republik

Ruhollah Chomeini: Der Revolutionsführer von 1979 wurde zum Obersten Führer der neu gegründeten Islamischen Republik. Damit hatte er bis 1989 das letzte Wort in praktisch allen Staatsangelegenheiten.

Ali Chamenei: Der inzwischen 83-jährige Kleriker hat nach Chomeinis Tod 1989 dessen Nachfolge als Oberster Führer angetreten und regiert bis heute mit eiserner Faust.

Mohammad Chatami: Der Reformer wurde 1997 bei einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung (80 Prozent) mit 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Damals waren die Versprechen der Reformer noch glaubwürdig, mittlerweile sehen sie die meisten Iraner:innen sie als eine Farce des Systems.

Ebrahim Raisi: Der ultrakonservative Jurist ist nach einer von Beobachter:innen als konstruiert bezeichneten Wahl seit 2021 Präsident. Als Richter trug Raisi 1988 Mitverantwortung für die Massenhinrichtungen Tausender politischer Gefangener.  T. L. M

Stärkung der Revolutionsgarden. Doch Chamenei und die paar extremistischen Mullahs hinter ihm hätten allein auf Dauer nicht überleben können. Um sich die Loyalität mächtiger und durchsetzungsstarker Unterstützer zu sichern, stärkte Chamenei deshalb die Revolutionsgarden, einen Arm der iranischen Streitkräfte, der von Revolutionsführer Chomeini 1979 gegründet worden war, um das neue System gegen innere und äußere Feinde zu schützen.

Unter Mahmud Ahmadineschad, der ab 2005 Präsident war, erfuhren die Revolutionsgarden einen drastischen Machtgewinn. Sie erhielten systematisch politische Posten, steuerliche Privilegien und wirtschaftlichen Einfluss.

Heute betreiben Revolutionsgarden nicht nur Erdölfelder, Raffinerien und Kraftwerke, sondern besitzen zudem zahlreiche Unternehmen, die den Alltag der Iraner:innen prägen, von der Taxi-App Snapp bis hin zum Versandhändler Digikala.

Aufgrund ihrer fast grenzenlosen Macht vergleichen Iran-Kenner:innen wie der Autor und politische Analyst Ali Alfoneh die Islamische Republik mit einer Militärdiktatur nach dem Muster von Myanmar.

Bei einer Entmachtung der Mullahs hätten die Revolutionsgarden alles zu verlieren: politischen Einfluss, Reichtum und ihre körperliche Unversehrtheit – denn die Wut der Iraner:innen auf die Revolutionsgarden, die sich schamlos am Land bedienen, ist enorm. Deshalb sind die Revolutionsgarden bereit, das System um jeden erdenklichen Preis zu verteidigen.

Verkommene Versprechen. Auch ab 2005, nach Chatamis Präsidentschaft, hofften die Menschen im Iran noch lange auf Reformen. So gingen sie 2009 gegen eine Wahlfälschung zugunsten Ahmadineschads zu Millionen auf die Straße. 2013 wählten sie den gemäßigten Hassan Rohani zum Präsidenten.

Doch zu diesem Zeitpunkt waren Versprechen auf Öffnung schon lange zur Farce verkommen. Jeder Gesetzesvorschlag, der auf eine gesellschaftliche Öffnung des Landes zielte, wurde vom ultrakonservativen Wächterrat blockiert, jenem Gremium der Islamischen Republik, in dem zwölf greise Männer neue Gesetze auf ihre Islamkonformität überprüfen.

Spätestens mit der Präsidentschaftswahl 2021, in der ausschließlich Hardliner und zwei Reformer ohne jeglichen politischen Rückhalt als Kandidaten zugelassen wurden, hat die Mehrheit der Iraner:innen mit der Hoffnung auf einen Wandel abgeschlossen. Die Beteiligung an der Wahl fiel auf einen historischen Tiefststand, unter 50 Prozent. „2009 hat die Islamische Republik die Mittelschicht verloren, nach dem blutigen Niederschlagen der Proteste um die Benzinpreiserhöhungen 2019 zusätzlich die Arbeiter:innen- und Unterschicht“, analysiert der iranische Journalist Farahmand Alipour.

Gemeinsamer Wertekanon. Das ist der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem die Kurdin Dschina Mahsa Amini am 16. September 2022 verstarb, nachdem sie durch die Sittenpolizei misshandelt wurde. Die Menschen, die seitdem auf die Straße gehen, fordern keine Reformen mehr, sondern das Ende der Islamischen Republik, sie rufen „Tod dem Diktator“ oder „Das ist das Jahr des Blutes, Seyyed Ali (Chamenei) wird stürzen!“

Zum ersten Mal zieht sich der Widerstand durch alle Gesellschaftsschichten, zum ersten Mal vereint die Demonstrierenden ein gemeinsamer Wertekanon, zusammengefasst im Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“. Zum ersten Mal singen die Protestierenden Revolutionslieder, zum ersten Mal bekommen sie Unterstützung von streikenden Ölarbeitern, zum ersten Mal organisieren sie trotz Internetzensur lähmende Boykott-Aktionen gegen regimenahe Unternehmen.

Ob bald Personen oder Gruppen mit Führungsfunktionen die Seiten wechseln und Loyalitäten bei den Streitkräften bröckeln, muss sich erst zeigen.

Sicher ist: Noch nie seit 1979 war Iran einer Revolution so nahe.

Teseo La Marca ist freier Reporter. Er schreibt für verschiedene Medien, u. a. die Taz, die Neue Zürcher Zeitung und die Frankfurter Rundschau. Seit 2017 reist er jährlich in den Iran und lernt die Landessprache Persisch. Zuletzt war er im September und Oktober 2022 vor Ort, als die Proteste um Mahsa Amini das Land erschütterten.

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